Die Taliban haben nach Angaben des früheren deutschen Afghanistan-Botschafters Markus Potzel zugesagt, auch nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen weiter Afghanen aus dem Land ausreisen zu lassen. Der Taliban-Chefunterhändler Scher Mohammed Abbas Staniksai habe zugesichert, Afghanen „mit gültigen Dokumenten“ könnten das Land nach dem 31. August mit kommerziellen Flügen verlassen, schrieb der zu Verhandlungen nach Doha entsandte Botschafter am Mittwoch auf Twitter.
Angesichts des vollständigen US-Truppenabzugs zum 31. August könnte die Luftbrücke der Bundeswehr aus Kabul schon am Freitag aufgehoben werden, wie die Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch aus Sicherheitskreisen in Berlin erfuhr. Bundeskanzlerin Merkel sagte am Mittwoch im Bundestag, sie wolle die Luftbrücke so lange wie möglich aufrechterhalten. Viele Afghanen fürchten, das Land nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen nicht mehr verlassen zu können. Am Mittwoch warteten am Kabuler Flughafen abermals tausende Menschen auf eine Mitfluggelegenheit.
Das amerikanische Militär ist derzeit noch mit rund 5400 Soldaten am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul im Einsatz. Das sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Mittwoch in Washington. Zuvor waren es rund 5800 gewesen. Die Vereinigten Staaten hatten mehrere Hundert ihrer Soldaten ausgeflogen, nachdem Präsident Joe Biden entschieden hatte, vorerst an dem Plan festzuhalten, die Truppen bis 31. August komplett abzuziehen.
Kirby betonte am Mittwoch, Ziel sei es, in Kabul möglichst bis zum Schluss Evakuierungsflüge für Schutzbedürftige abzuwickeln, während zugleich schrittweise die amerikanische Truppenpräsenz reduziert werde. Es werde dabei priorisiert, welche militärischen Kräfte vorerst bleiben müssten und welche nicht mehr benötigt würden.
Auf die Frage, wer den Abflug der letzten amerikanischen Flieger – also die Maschinen mit den letzten Soldaten an Bord – absichern werde, erklärte das Pentagon lediglich vage, das US-Militär habe die Fähigkeit, die eigenen Kräfte selbst zu schützen. Konkreter äußerte sich das Ministerium aus taktischen Gründen nicht. Kirby betonte aber, sobald die US-Truppen abgezogen seien, liege die Absicherung des Flughafens nicht mehr in der Verantwortung der USA.
Die Bundeswehr hat weitere 167 Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul ausgeflogen. Ein Militärtransporter des Typs A400M landete am frühen Mittwochabend abermals in Taschkent im Nachbarland Usbekistan, wie die Bundeswehr auf Twitter mitteilte. Es war bereits der dritte Flug der Bundeswehr von Afghanistan nach Usbekistan an dem Tag im Rahmen der Evakuierungsaktion, zuvor waren je 218 und 153 Menschen ausgereist.
Soldaten der Bundeswehr und der US-Streitkräfte haben bei ihrem gemeinsamen Helikoptereinsatz in der afghanischen Hauptstadt Kabul 21 Deutsche in Sicherheit gebracht. Dabei hätten die US-Soldaten ihre eigenen Hubschrauber geflogen und die Bundeswehrsoldaten die Aufstellung an einem Sammelpunkt organisiert, sagte Generalinspekteur Eberhard Zorn am Mittwoch in Berlin. „Die Operation ist in der Nacht durchgeführt worden“, sagte er. Nach früheren Informationen waren Spezialkräfte an dem Einsatz beteiligt.
Größte Sorge mache inzwischen die Anschlagsgefahr bei Evakuierungen aus der Stadt. „Und zwar nicht die Anschlagsgefahr, die von den Taliban ausgeht“, sagte Zorn dazu. „Die Taliban gewährleisten im Grunde die Sicherheit, und zwar die Sicherheit rings um den Flugplatz durch ihre Checkpoints, aber auch bei den jeweiligen Konvois, die durchgeführt werden.“
„Es kommt sehr häufig zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen an den Gates"
Die Türkei hat mit dem Abzug ihrer Soldaten aus Afghanistan begonnen und damit offenbar ihr Vorhaben aufgegeben, bei der Sicherung des Kabuler Flughafens zu helfen. „Die türkische Armee kehrt in unser Heimatland mit dem Stolz zurück, die ihr anvertrauten Aufgaben erfüllt zu haben“, erklärte das Verteidigungsministerium in Ankara am Mittwochabend. Es sei damit begonnen worden, die Soldaten vom Kabuler Flughafen abzuziehen, erklärte das Ministerium.
Zuletzt hatte die Türkei 500 Soldaten in Afghanistan stationiert. Die Taliban hatten die Türkei nach deren Angaben um technische Unterstützung beim Betrieb des Flughafens in Kabul nach dem Abzug ausländischer Truppen gebeten. Der nun beschlossene Abzug kommt einer Absage gleich.
Nach Einschätzung der amerikanischen Regierung könnten sich noch bis zu 1500 amerikanische Staatsbürger in Afghanistan aufhalten. 500 davon seien bereits mit konkreten Anweisungen zu ihrer baldigen Evakuierung versorgt worden, sagte US-Außenminister Antony Blinken am Mittwoch in Washington. Regierungsmitarbeiter versuchten derzeit weiter intensiv, die übrigen maximal 1000 Personen zu kontaktieren – mehrfach am Tag, auf diversen Kanälen. Wahrscheinlich sei die Zahl niedriger, möglicherweise „signifikant“ niedriger, sagte Blinken. „Manche sind vielleicht schon nicht mehr im Land.“
Der Minister betonte mehrfach, die Zahl der amerikanischen Staatsbürger in Afghanistan sei nur schwer genau zu beziffern. Die amerikanische Regierung verfolge nicht die Bewegung ihrer Bürger auf der Welt. Amerikaner seien nicht verpflichtet, sich bei der dortigen Botschaft zu registrieren. Von jenen, die das täten, meldeten sich auch nicht alle bei der Botschaft ab, wenn sie das Land verließen. Es sei daher schwer, eine zuverlässige Zahl zu nennen. Das Außenministerium setze aber alles daran, die verbliebenen Amerikaner im Land ausfindig zu machen. Allerdings wolle möglicherweise auch nicht jeder ausreisen.
„Es ist ein Freiheitskampf für universelle Rechte und Überzeugungen. Das wird niemals sterben.“
In Afghanistan weitet sich die Widerstandsbewegung gegen die radikal-islamischen Taliban nach den Worten des Bruders des legendären afghanischen Kriegsherrn und Taliban-Gegners Ahmed Schah Massud aus. Der Widerstand habe sich über das Land verbreitet, sagte Ahmed Wali Massud am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP.
Die Einstellungen der Afghanen hätten sich in den vergangenen 20 Jahren entwickelt, sagte Massud. „Die Frauen Afghanistans sind der Widerstand, denn ihre Werte unterscheiden sich sehr von denen der Taliban.“ Auch die jüngeren Generationen, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachten, seien Teil der Widerstandsbewegung. „Egal was passiert, der Widerstand wird weitergehen. Es ist ein Freiheitskampf für universelle Rechte und Überzeugungen. Das wird niemals sterben“, sagte Ahmed Wali Massud.
Die amerikanische Regierung will auch nach dem 31. August Amerikaner und Afghanen bei der Ausreise aus Afghanistan unterstützen. „Wir und die internationale Gemeinschaft erwarten, dass die Menschen, die Afghanistan nach dem Abzug des US-Militärs verlassen wollen, dies auch tun können. Daran arbeiten wir“, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Mittwochnachmittag (Ortszeit). Man prüfe eine Reihe von Möglichkeiten, wie man etwa weiter konsularische Unterstützung leisten können.
US-Außenminister Antony Blinken sprach davon, dass es keine „Frist“ für die Bemühungen gebe, ausreisewilligen Amerikanern oder Afghanen zu helfen. Die militant-islamistischen Taliban hätten sich verpflichtet, Menschen über den 31. August hinaus sicheres Geleit zu ermöglichen. „Und wir haben sicherlich Anreize und Druckmittel gegenüber einer zukünftigen afghanischen Regierung, um sicherzustellen, dass dies geschieht“, sagte Blinken weiter ohne ins Detail zu gehen.
„US-Bürger, die sich derzeit am Abbey Gate, East Gate oder North Gate aufhalten, sollten das Gebiet sofort verlassen.“
„Wie sie sich gut vorstellen können, als Pilot der Luftwaffe ist es mein Traum, dass junge Kind namens Reach als US-Staatsbürgerin aufwachsen zu sehen und dass sie (später) Kampflugzeuge der US-Luftwaffe für die Luftwaffe fliegen wird.“
„Wenn wir der Erzählung treu bleiben wollen, dass unsere Freiheit und Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird, dann müssen wir dort gerade jetzt auch die Menschenwürde verteidigen.“
„Das ist ja eine Berufsarmee gewesen. Das waren keine Wehrpflichtigen, die sofort die Waffen fallen lassen, weil sie zum Dienst gezwungen worden wären.“
„Wir wollen und müssen den Menschen helfen. Was wir dafür nun von der neuen Regierung brauchen, ist Klarheit: Was wollen sie und was erwarten sie von uns?“
„Wir müssen die Menschen jetzt dabei unterstützen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Denn in zwei, drei Monaten haben wir Winter – und der ist hier bitterkalt. Bei minus 20 Grad können die Menschen nicht in Zelten oder notdürftigen Behausungen überleben.“
Die Bundeswehr hat ihre Evakuierungsmission für Deutsche und einheimische Ortskräfte in Afghanistan am Donnerstagmorgen fortgesetzt. Gegen 7.15 Uhr MESZ startete in der usbekischen Hauptstadt Taschkent ein Transportflugzeug A400M in Richtung Kabul, wie das Einsatzführungskommando auf Twitter mitteilte. Es soll dort weitere Schutzsuchende aufnehmen.
Am Vorabend hatte die Bundeswehr mit dem letzten von mehreren Flügen am Mittwoch 167 Menschen aus der afghanischen Hauptstadt ausgeflogen. „Insgesamt 5193 Personen konnten seit Beginn der Evakuierungsmission durch die Bundeswehr in Sicherheit gebracht werden - allein gestern waren es 539 zu Schützende“, schrieb das Verteidigungsministerium am Donnerstag auf Twitter. „Wir evakuieren bis zur letzten Sekunde.“
Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat die Länder der G-20-Gruppe aufgerufen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Rechte der Frauen in Afghanistan zu schützen. Afghanische Mädchen und Frauen verlören gerade ihre „Freiheit“ und ihre „Würde“ und kehrten in die „traurigen Umstände zurück, in denen sie vor 20 Jahren lebten“, sagte Draghi am Donnerstag bei einer G-20-Ministerkonferenz zu Frauenrechten in Santa Magherita Ligure.
Frauen seien in Afghanistan dem Risiko ausgesetzt, wieder „Bürger zweiter Klasse“ zu werden, zum Opfer von Gewalt zu werden und systematisch diskriminiert zu werden, nur weil sie Frauen seien, sagte Draghi in seiner Funktion als amtierender Präsident der G-20-Staaten. Die G-20-Staaten müssten alles unternehmen, damit die Frauen ihre grundlegenden Rechte behielten, vor allem das Recht auf Bildung.
Der Vorsitz im Rat der EU hat für den kommenden Dienstag ein Sondertreffen der Innenminister zur Lage in Afghanistan einberufen. Das teilte die Vertretung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union am Donnerstag in Brüssel mit. Thema der Beratungen sollen nach Angaben der derzeitigen slowenischen Ratspräsidentschaft unter anderem die möglichen Auswirkungen der Lage in Afghanistan auf Migrationsbewegungen in Richtung Europa sein. Slowenien hat den alle sechs Monate wechselnden EU-Ratsvorsitz seit Juli inne. Als kleines Land mit nur rund 2,1 Millionen Einwohnern besitzt es bei europäischen Entscheidungsprozessen normalerweise keinen besonders großen Einfluss. Als EU-Vorsitzland kommt ihm nun aber für ein halbes Jahr eine wichtige Rolle bei der Themensetzung und bei der Lösung von Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Staaten zu.
Unionskanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) hat das nahende Ende der Evakuierungsflüge aus Kabul als abermalige „Niederlage des Westens“ gegenüber den Taliban bezeichnet. Dass besonders die Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Deutschen einmal eine Luftbrücke nach Berlin erfunden hätten, sich nicht in der Lage sähen, länger als bis zum 31. August in Afghanistan zu bleiben, „ist eine bittere Enttäuschung“, sagte er am Donnerstag in Düsseldorf. Auch über den 31. August hinaus müsse das Ziel sein, Menschen auf zivilem Luftfahrtweg oder auf dem Landweg aus Afghanistan herauszubringen. Laschet sprach sich zudem abermals für einen Nationalen Sicherheitsrat aus, der künftig im Bundeskanzleramt angesiedelt werden solle.