Kanzlerin Merkel hat angekündigt, dass Deutschland alles tun werde, um einheimische Ortskräfte aus Kabul in Sicherheit zu bringen; zugleich räumte sie ein: „Das haben wir leider nicht immer in der Hand.“ Ob die Evakuierungen ausgeführt werden können, hänge „von der Lage in Kabul ab“.
In Kabul ist nach der faktischen Machtübernahme der Taliban die größte Fahne des Landes mit der Landesflagge eingeholt worden. Das zeigten Fernsehbilder am Montag. Die Fahne war ein Geschenk Indiens und war erstmals 2014 am Wasir-Akbar-Khan-Hügel gehisst worden, einer Anhöhe im Zentrum der Stadt. Sie galt als eine Art Wahrzeichen, war ein beliebtes Fotomotiv und konnte von weitem gesehen werden.
Am Wasir-Akbar-Khan-Hügel ist auch der ehemalige Präsident Burhanuddin Rabbani begraben, der 2011 bei einem gezielten Selbstmordanschlag getötet worden war. Auf dem Hügel gibt es zudem ein Schwimmbad mit Sprungturm, das von den Sowjets erbaut worden war. Zur Zeit der Taliban-Herrschaft hatten diese den Sprungturm und das Schwimmbad für Exekutionen genutzt.
Im Zuge der Evakuierung von britischen Staatsbürgern und afghanischen Helfern will London 200 zusätzliche Soldaten nach Kabul schicken. Das teilte das britische Verteidigungsministerium am Montag mit, nachdem in der vergangenen Woche bereits 600 militärische Kräfte nach Afghanistan entsandt wurden. Die Soldaten sollen dabei helfen, die verbliebenen britischen Staatsbürger und afghanischen Helfer des britischen Militärs möglichst schnell aus dem Land zu holen.
Premierminister Boris Johnson kündigte nach einem Telefonat mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron an, in den kommenden Tagen auch im Kreis der G7-Staaten – einer Gruppe führender Industrienationen – mit einer Schalte in den Dialog über Afghanistan treten zu wollen. Der britische Außenminister Dominic Raab schloss die Verhängung von Sanktionen nicht aus. Dies werde vom „Verhalten der Taliban abhängen“, so Raab.
Das erste Militärflugzeug der Bundeswehr für den Evakuierungseinsatz in Afghanistan ist nach stundenlanger Verzögerung unter schwierigen Bedingungen auf dem Flughafen Kabul gelandet. Die Maschine vom Typ A400M war zuvor fünf Stunden lang über dem Flughafen gekreist, der wegen chaotischer Zustände auf dem Rollfeld vorübergehend gesperrt war, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Militärkreisen erfuhr. Das Benzin hätte nicht mehr lange gereicht. Zuvor hatte bereits eine andere Transportmaschine der Bundeswehr den Anflug auf Kabul abbrechen und zum Nachtanken ins usbekische Taschkent fliegen müssen.
Die beiden Flugzeuge sollen deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte, die früher für die Bundeswehr oder Bundesministerien gearbeitet haben oder noch arbeiten, zunächst nach Taschkent ausfliegen. Von dem dortigen Drehkreuz soll es dann mit einer Chartermaschine weiter nach Deutschland gehen. Die beiden Maschinen waren am Morgen vom niedersächsischen Wunstorf Richtung Kabul gestartet und in Baku in Aserbaidschan zwischengelandet.
Der Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul hat nach mehrstündiger Schließung wieder den Betrieb aufgenommen. Kurz darauf sei eine US-Maschine mit weiteren Soldaten zur Sicherung des Flughafens gelandet, sagte US-General Hank Taylor am Montag im Pentagon.
Der Flugverkehr war zuvor vorübergehend ausgesetzt worden, weil nach dem Einmarsch der radikalislamischen Taliban in Kabul tausende Afghanen das Flugfeld gestürmt hatten, um aus dem Land zu fliehen. An dem Flughafen spielten sich dramatische Szenen ab, Menschen versuchten verzweifelt, an Bord von Maschinen zu gelangen. Videos zeigten, wie sich zahlreiche Afghanen an einen Transportflieger des US-Militärs klammerten. Medienberichten zufolge starben mehrere Menschen, als sie von dem Flugzeug überrollt wurden oder herunterfielen. US-Soldaten töteten außerdem zwei bewaffnete Männer in der Menge, die ihre Waffen „auf bedrohliche Weise geschwungen“ hatten, wie ein Pentagon-Vertreter erklärte.
Unionskanzlerkandidat Armin Laschet hat eine „schonungslose“ Aufarbeitung dazu angekündigt, warum die Lage in Afghanistan auch von der Bundesregierung falsch eingeschätzt wurde. Er sagte am Montagabend in den ARD-„Tagesthemen“: „Ich sage zu: Es wird alles aufgeklärt, wir müssen Konsequenzen ziehen.“ Die Bundesregierung habe – wie alle internationalen Institutionen und Dienste – eine „Fehlkalkulation“ gemacht.
So müsse sich Deutschland bei solchen Einsätzen überlegen, was das Ziel sei. „Wie geht man geordnet hinein? Und wie geht man geordnet hinaus? Wie können wir Europäer selbst handlungsfähiger werden?“ Im Fall Afghanistan sei Deutschland fast ausschließlich von der Entscheidung der Amerikaner abhängig. „Das Bundestagsmandat für den Einsatz ging noch bis 2022. Aber nachdem die Amerikaner gesagt haben, sie ziehen sich zurück, ist Europa, ist die Bundeswehr nicht in der Lage, alleine in einem solchen Land zu bleiben“, erklärte Laschet.
„Alles das wird zu analysieren sein, auch schonungslos, auch ohne Rücksicht auf Parteien“, sagte Laschet, der auch CDU-Bundeschef und nordrhein-westfälischer Ministerpräsident ist. „Nur im Moment steht wirklich dieser Rettungseinsatz im Mittelpunkt, und darauf sollten wir uns konzentrieren“, sagte er mit Blick auf den laufenden Einsatz, um deutsche Bundesbürger und afghanische Ortskräfte aus Afghanistan zu holen. „Ob Wahlkampf ist oder nicht: Das ist jetzt einer der gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr, ein robustes Mandat.“
Ein Flugzeug der US-Luftwaffe hat einem Medienbericht zufolge mit einem einzigen Flug rund 640 afghanische Zivilisten in Sicherheit gebracht. Die Internetseite „Defense One“ veröffentlichte am Montag ein Foto des vollgepackten Innenraums der Transportmaschine vom Typ C-17, in dem die Afghanen auf dem Boden sitzen - der vor lauter Menschen nicht mehr zu sehen ist.
„Defense One“ berichtete, panische Afghanen hätten sich in Kabul über die halboffene Rampe ins Flugzeug gezogen. Die Besatzung habe sich entschieden zu fliegen, statt die Menschen wieder von Bord zu zwingen. Aus Sicherheitskreisen habe es geheißen, nach der Landung in Katar seien 640 Zivilisten aus der Maschine ausgestiegen. Nach Angaben des Herstellers Boeing ist die riesige Frachtmaschine eigentlich für bis zu 134 Passagiere ausgelegt.
Das US-Verteidigungsministerium bestätigte den Bericht zunächst nicht. In Kabul war es am Montag zu Chaos am Flughafen gekommen. Afghanen, die vor den Taliban fliehen wollten, rannten auf das Flugfeld, um in Sicherheit gebracht zu werden. Der Flugverkehr musste zeitweise eingestellt werden.
Der Vorsitzende des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags, Roderich Kiesewetter (CDU), hat nach der Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan Konsequenzen gefordert. „Wir müssen Lehren aus den Erfahrungen in Afghanistan für die Organisation der Dienste ziehen“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Man muss sich fragen, ob es weiter richtig ist, zwischen Inlands- und Auslandsnachrichtendiensten zu trennen.“ Zudem forderte er einen Bundessicherheitsrat, der wissenschaftsbasiert Trendanalysen oder Szenarien erarbeite, Einsätze bewerte und Entscheidungen vorbereite.
Der CDU-Militärexperte Patrick Sensburg sprach von einer „generellen Fehleinschätzung der Lage über Jahre“ – und da würde er alle Geheimdienste einbeziehen. „Sie haben die Stärkeverhältnisse im klassischen militärischen Denken aufgezeigt, alle Daten und Fakten waren richtig, aber die Analyse hat nicht gepasst.“
Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte in Afghanistan und schließlich die Hauptstadt Kabul eingenommen – oft kampflos. Der blitzartige Vormarsch hatte viele Experten und auch die US-Regierung und die Bundesregierung überrascht.