Bei der Evakuierungs-Mission in Afghanistan fertigen die amerikanischen Streitkräfte am Flughafen Kabul an den verschiedenen Eingängen nach eigenen Angaben weiterhin Menschen ab. Eingangstore seien in den vergangenen 24 Stunden nur kurzfristig geschlossen worden, damit „die richtigen Leute“ passieren konnten, sagte US-Generalmajor William Taylor am Samstag im Pentagon. Nicht erklären konnten Taylor und Pentagon-Sprecher John Kirby, warum die US-Botschaft in Kabul US-Bürgern am Samstag geraten hatte, nicht zum Flughafen zu fahren. Kirby verwies aber darauf, dass die Lage rund um den Flughafen nicht stabil sei und sich ständig ändere.
Kirby sagte, es gebe „eine geringe Anzahl“ von Amerikanern, die auf dem Weg zum Flughafen in den vergangenen Tagen von Taliban drangsaliert oder geschlagen worden seien. Das gelte auch für afghanische Unterstützer des US-Einsatzes. Die meisten Amerikaner würden aber durch die Checkpoints der Taliban gelassen. Die Zuständigen bei den Taliban seien über die Zwischenfälle informiert worden. Die militanten Islamisten haben nach Darstellung der US-Regierung zugesagt, Amerikaner passieren zu lassen. „Es hat den Anschein, dass nicht alle Taliban-Kämpfer die Botschaft verstanden haben oder sich entschlossen haben, sie zu befolgen“, sagte Kirby.
Die Evakuierung von Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Bundeswehr ist inmitten chaotischer Verhältnisse am Flughafen ins Stocken geraten. Zwei am Samstag gestartete deutsche Flieger konnten zunächst nur sieben beziehungsweise acht Personen nach Usbekistan bringen, wie die Bundeswehr auf Twitter mitteilte.
Bei einem späteren Bundeswehr-Transporter gingen dann wieder deutlich mehr Schutzbedürftige an Bord – er flog 205 Menschen aus dem von den militant-islamistischen Taliban eroberten Land aus. Der nächste Flieger am Abend hob allerdings mit gerade 20 Menschen ab. Die Lage in Kabul gestalte sich weiterhin schwierig, so die Bundeswehr.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat eine massive Fehleinschätzung der Bundesregierung angesichts des Vormarschs der Taliban in Afghanistan eingeräumt. „Noch zu Beginn der letzten Woche hat niemand in der internationalen Gemeinschaft damit gerechnet, dass Kabul bereits am Ende der Woche kampflos fallen würde“, schrieb Kramp-Karrenbauer in einem der Nachrichtenagentur dpa vorliegenden Brief an Abgeordnete des Bundestags. Zuerst hatte das Magazin „Der Spiegel“ darüber berichtet.
„Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeiten und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand gegen die Taliban zu optimistisch.“ Ähnlich hatten sich Außenminister Heike Maas (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am 16. August geäußert, dem Tag nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban.
Kramp-Karrenbauer schrieb, die Ausreise der Ortskräfte vor dem Abzug der Bundeswehr sei geplant gewesen, aber an Pass- und Visaanforderungen gescheitert. Der Generalinspekteur habe auf seinem letzten Flug nach Afghanistan vom 16. auf den 17. Juni Visa mitgenommen, so dass fast 2000 Ortskräfte der Bundeswehr mit ihren Familienangehörigen bis vergangenen Freitag einreisen konnten.
Eine Ausreise weiterer Ortskräfte sei dadurch behindert worden, dass die vom Auswärtigen Amt beauftragte Internationale Organisation für Migration (IOM) ihre Leistung vor Ort nicht habe erbringen können und dass die afghanische Regierung bis zuletzt auf Reisepässen bestanden habe. Anders als bei Ortskräften der Bundeswehr habe zudem die Tätigkeit von Ortskräften des Auswärtigen Amts und des Entwicklungsministeriums nicht mit dem Abzug der Bundeswehr geendet, so Kramp-Karrenbauer.
Die Afghanistan-Direktorin des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen warnt angesichts der Entwicklung in dem Land vor einer „humanitären Katastrophe“. Mary-Ellen McGroarty forderte nach der Machtübernahme der Taliban eine enge Abstimmung innerhalb der internationalen Gemeinschaft. „Andernfalls wird sich eine ohnehin schon schreckliche Situation zu einer absoluten Katastrophe entwickeln“, sagte sie der britischen Sonntagszeitung The Observer.
Das WFP schätzt, dass von den etwa 38 Millionen Menschen in Afghanistan heute schon 14 Millionen nicht genug zu essen haben. Das Land wird auch von einer schweren Dürre geplagt. „Wir müssen Unterstützung ins Land bringen – nicht nur Nahrung, auch medizinische Unterstützung und Schutz. Wir brauchen Geld, und wir brauchen es jetzt", äußerte McGroarty. Falls nicht innerhalb von sechs oder sieben Wochen Hilfe eintreffe, werde es zu spät sein – viele Straßen seien dann durch Schnee nicht mehr passierbar.
In Kabul sind im Gedränge rund um den Flughafen nach Angaben der britischen Regierung sieben Menschen ums Leben gekommen. „Unsere Gedanken sind bei den Familien von sieben afghanischen Zivilisten, die tragischerweise in der Menge in Kabul gestorben sind“, hieß es in einem Statement des Verteidigungsministeriums.
Zuvor hatte bereits ein Korrespondent des britischen Senders Sky News von chaotischen Szenen vor den Toren des Flughafens berichtet, bei denen Menschen am Samstag „gequetscht“ worden seien. Viele seien dehydriert und verzweifelt gewesen. Seinem Bericht zufolge konnten Sanitäter bei mehreren Menschen keine Lebenszeichen mehr feststellen, woraufhin diese in weiße Tücher gehüllt worden seien.
Seit der Machtübernahme der Taliban versuchen täglich zahlreiche Afghanen und ausländische Staatsbürger, sich Zutritt zum Flughafen der Hauptstadt zu verschaffen, um mit einem der Evakuierungsflüge dem Land zu entkommen. Die deutsche und die amerikanische Botschaft in Kabul rieten ihren Staatsbürgern am Samstag von Versuchen ab, den Flughafen zu erreichen.
Den Menschen in Kabul geht zunehmend das Bargeld aus. Einwohner berichteten der Deutschen Presse-Agentur, die Geldautomaten in der Stadt seien praktisch leer. Banken und auch der Geldwechslermarkt seien seit einer Woche geschlossen. „Alle in der Stadt beschweren sich mittlerweile, dass sie kein Geld abheben können“, sagte ein Bewohner.
Ein Mann sagte dem lokalen TV-Sender Tolo News, seine Bank habe zudem eine Obergrenze für Abhebungen eingeführt. Wenn denn ein Geldautomat doch noch befüllt sei, könne man nur 10.000 Afghani (rund 100 Euro) abheben. Viele fürchteten, dass sie angesichts der aktuellen Krise überhaupt nicht mehr an ihr Geld kommen.
Auf der Facebook-Seite des Finanzministeriums hieß es in der Nacht zu Sonntag, die Zentralbank, private Banken und andere Finanzinstitutionen nähmen bald wieder ihren Betrieb auf. Gleichzeitig wurde das „technische Personal“ des Ministeriums aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren. Andere Ministeriumsmitarbeiter sollten eine Entscheidung der Finanzkommission der Taliban abwarten. Es hieß zudem, alle zivilen Staatsangestellten würden ab dem Beginn der „neuen islamischen Regierung“ wieder wie früher bezahlt werden.
Der angekündigte Sondergipfel der G-7-Staaten zur brisanten Lage in Afghanistan soll an diesem Dienstag stattfinden. „Ich werde die Staats- und Regierungschefs der G7 am Dienstag zu dringenden Gesprächen über die Lage in Afghanistan einberufen“, twitterte der britische Premierminister Boris Johnson. Großbritannien hat derzeit den Vorsitz in der Runde der führenden westlichen Industrienationen inne. Neben Deutschland und Großbritannien gehören auch Frankreich, Italien, Kanada, Japan und die Vereinigten Staaten dazu.
Angesichts der Machtübernahme der Taliban wollen die Staats- und Regierungschefs der G-7-Staaten in der kommenden Woche bei einer Videokonferenz über das weitere Vorgehen beraten. Es sei entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft zusammenarbeite, um sichere Evakuierungen zu gewährleisten und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, schrieb Johnson.
Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, spricht sich für die Aufnahme von mehr als 50.000 Flüchtlingen aus Afghanistan in Deutschland aus. Im ARD-Sommerinterview „Bericht aus Berlin“ forderte sie am Sonntagabend außerdem, schnellstmöglich eine Afghanistan-Konferenz mit den G-7-Staaten, Russland und den Anrainer-Staaten von Afghanistan einzuberufen: „Die Anrainer-Staaten braucht man, um darüber zu klären: Wie können Menschen, die jetzt Panik haben, dass die ganze Familie getötet wird, wirklich in Sicherheit gebracht werden?“ Zu den Anrainerstaaten Afghanistans zählen Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan. Auch China teilt sich einen kleinen Grenzstreifen mit Afghanistan.
Dabei seien diese Nachbarstaaten zum Teil durchaus problematisch, ergänzte die Politikerin im Social Media Format „Frag selbst“. Man müsse Staaten wie zum Beispiel Qatar klar machen: „Wenn ihr weiter die Taliban unterstützt, zu massiven Menschenrechtsverletzungen beitragt, dann können wir nicht bei euch demnächst Fußball spielen.“ In Qatar soll im kommenden Jahr die Fußball-WM stattfinden.
Bei der Evakuierungsaktion der Bundeswehr ist ein weiterer Flieger mit 213 Schutzbedürftigen an Bord aus Kabul gestartet. Das teilte die Bundeswehr am Sonntagabend auf Twitter mit. Der Militärtransporter des Typs A400M machte sich auf den Weg ins usbekische Taschkent. Er hatte auf dem Hinflug Hilfsgüter zum Flughafen Kabul gebracht.
Zuvor hatte die Bundeswehr seit dem Start ihrer Evakuierungsaktion bereits mehr als 2500 Menschen ausgeflogen. Darunter waren etwa 1850 Afghanen, hieß es am Sonntagabend aus dem Auswärtigen Amt. Zudem wurden demnach mehr als 270 Deutsche und mehrere Hundert Menschen aus anderen Ländern ausgeflogen. Wie viele der evakuierten Afghanen Ortskräfte etwa der Bundeswehr waren, ist unklar. Einige von ihnen könnten auch mit Flugzeugen anderer Länder ausgeflogen worden sein.